Apologie der Abgehängten (Teil 3)

Ich muss übrigens zu meiner Rechtfertigung noch darlegen, wieso ich mich in der Gedankenwelt der Discounterkunden und Schrebergärtner so gut auskenne. Das liegt daran, dass ich zum Gassigehen mit unseren Hunden öfters die nahegelegene Kleingartenanlage aufsuche. Sir Theodor patrouilliert selbstständig durch die Gänge und sieht überall nach dem Rechten, derweil Lockie, eine dem Detailschnüffeln sehr zugetane und daher für eine Pudelpointer-Mischung extrem statische, beinahe schon steifftierartische Hündin, dafür sorgt, dass der Gassigang mehr ein Herumstehen als ein Gehen ist. Während sie Quadratzentimeter für Quadratzentimeter den Boden abschnüffelt und ich neben ihr stehe und gähne, lasse ich so dies und das auf mich wirken, blinzele gegen die Abendsonne durch die Botanik, und da sehe ich Gärtner auf ihren Bänken vor ihren Hütten sitzen oder durch ihre Pflanzungen wandeln, in der Hand halten sie in der Regel eine Pulle Bier, und über ihren Köpfen schweben sehr ausführliche Denkblasen, die ich mir zum Zeitvertreib durchlese, und manchmal sind die so interessant, dass ich sie heimlich notiere. Und da steht dann zum Beispiel so was hier:

„Ach, die Welt ist wirklich zum Verrücktwerden. Jeden Tag klafft sie tausendmal auseinander, die Welt, wie ich sie sehe und für wirklich halte, und die Welt, wie sie von der Mehrheit meiner Mitmenschen beschrieben und interpretiert wird. Und wenn sie nicht lügen, mich nicht vorsätzlich täuschen wollen, dann muss ich wohl glauben, dass sie die Welt tatsächlich so sehen, wie sie das sagen. Die einen, weil sie Ideologen sind, die andern, weil sie Idioten sind. Die einen, weil sie eine neue Welt herbeilügen, herbeizwingen wollen, die andern, weil sie sich jeden Blödsinn einreden lassen, der ihr Behagen an der Mode-Medien-Massen-Realität nicht beeinträchtigt. Weil ihr größtes Behagen nun mal im Dazugehören liegt, in der kuschelig-wolligen Wärme der Herde.

Man könnte sich wohl auf den konzilianten Standpunkt zurückziehen, dass doch ruhig jeder in seiner Welt leben soll, jeder hat seine Wahrheit, es gibt nun mal nicht die Wahrheit. Alles Ansichtssache. Das aber ist relativistische Denkfaulheit, geistige Verwahrlosung, faktenverachtendes Memmentum. Schlichte Feigheit vor den Konsequenzen schonungsloser Zurkenntnisnahme der Wirklichkeit, wie sie ist. Und man kann wissen, wie sie ist.

Man sagt uns etwa, dass wir in einer Demokratie leben. Wer es wissen will, kann wissen, dass echte Demokratie auf der Partizipation des Bürgers beruht. Den Bürger aber gibt es fast nicht mehr. Der gesetzesgehorsame ‚Staatsbürger‘, der konsumistische, konformistische Untertan, der alle vier Jahre sein Wahlkreuz machen darf, hat mit dem echten Bürger: dem freien, selbstbewussten, verantwortungsvollen, gemeinwohlorientierten Mitgestalter einer umgrenzten Res Publica, wenig zu tun. De facto leben wir in einer ochlomorphen Oligarchie, in der eine kleine Gruppe von Parteigranden, Spitzenpolitikern, Funktionären und Amtsträgern die Führerschaft innehat, teils gestützt, teils getrieben von einer verpöbelten, einer geschmack- und gewissenlosen Medienelite. Die Selektionsmechanismen dieser Herrschaftsform begünstigen die charakterlich am wenigsten zur ‚Good Governance‘ geeigneten Typen: Karrieristen, Konformisten, machtgeile, schamlose, anpassungsfähige, orientierungslose, ehrlose, elastische Taktiker, Heuchler, Ideologen. Die Menschen, die man jeden Tag in den Nachrichten, den Politmagazinen und den Talkshows sieht, und die Menschen, die diese Menschen befragen oder ihre Aussagen kommentieren, einordnen, ‚kritisieren‘, sind gerade nicht ‚die Besten‘. Es sind die, die ins System passen. Die, die den Anforderungen hinsichtlich Denkweise, Redeweise, Lebensstil, Gestik, Habitus, ‚Haltung‘, Verinnerlichung der Spielregeln genügen. Rundgelutschte Nullen also, Wichtigtuer und Nichtskönner, Luftpumpen, Emporkömmlinge, Phraseure und Schwadroneure, Denunzianten und Sykophanten, Speichellecker und Schleimscheißer, die sich in einer echten Demokratie niemals über längere Zeit behaupten könnten. Ausnahmen gibt es vielleicht noch hier und da …“

So steht es in der Denkblase über der Baseballkappe von Herbert Eickhoff, Staplerfahrer in der Brauerei Doldenperle und Kassenwart der Kleingartenfreunde Grüne Lunge Freylinghausen. – Prösterchen.

Zwei Parzellen weiter rupft Luise Klippschmitt im Hochbeet mit den Kohlrabis herum und sinniert:

„Man sagt uns, dass Deutschland ein Einwanderungsland sei, in dem jeder, der einen entsprechenden Ausweis hat und sich an das Grundgesetz hält, ‚Mitglied‘ sein könne.
Wer es wissen will, kann wissen, dass gesellschaftliche Kohäsion nicht auf einem Pass und einer Verfassung gründen kann. Ein Dokument vorweisen macht noch keinen Bürger, Regeln befolgen macht noch keine Gemeinschaft. Sozialer Zusammenhalt kommt aus dem Wir-Bewusstsein, dem Wir-Gefühl, das alle partikularen Gruppeninteressen und Gegensätze überwölbt. Warum sind wir ein Wir? Weil wir (faktisch) eine gemeinsame Vergangenheit haben, und weil wir (hoffentlich) eine gemeinsame Zukunft haben (wollen). Wir sind (nach hinten) eine Traditions- und Erben-Gemeinschaft, und wir sind (nach vorn) eine Willens- und Liebes-Gemeinschaft. Wir müssen uns nicht untereinander lieben, aber wir müssen das Ganze lieben, Deutschland als Staatsidee und Kulturideal. Wir müssen wollen, dass es fortbesteht. Es wird nicht fortbestehen, wenn wir hier weiterhin millionenfach analphabetische junge Männer aus voraufgeklärten Kulturen illegal einwandern lassen; wenn wir unsere eigene Kultur derart verdorren lassen, dass unsere nachwachsenden Generationen nichts mehr vorfinden, in das sie sich freudig integrieren könnten; und wenn ultralinke, kulturrelativistische, nationalmasochistische Positionen in den höchsten Etagen der politischen Institutionen zur Normalität werden.“

Plöpp! Da platzt der Monolog, und die Gärtnerin wendet sich wieder dem Wesentlichen zu, sie entscheidet, dass eine von den Kohlrabis reif sei und verschwindet mit ihrer Ernte in der Hütte.

Nachbar H.-P. „Grizzly“ Grieskorn kommt den oberen Amselweg entlang auf uns zu und überlegt:

„Man sagt uns, dass ‚die Weißen‘ die Sklaverei in die Welt gebracht hätten und nun für alle Ewigkeit mit dieser untilgbaren Schuld herumzulaufen hätten.
Wer es wissen will, kann wissen, dass die Menschheitsgeschichte eine globale Geschichte von Sklavenhaltern und Sklaven ist, und dass es Europäer waren, die zum ersten Mal überhaupt auf die Idee kamen, dass alle Menschen Rechte haben, dass diese Rechte durch die Sklaverei verletzt werden, und dass die Sklavenhaltung, der Sklavenhandel und vor allem die innerafrikanische Versklavung abzuschaffen sei. Sie führten Kriege für dieses Ziel, Kriege, die unter enormen Kosten und ohne irgendein Bereicherungsziel geführt wurden, nur für die Durchsetzung der Rechte fremder Menschen. ‚Die freien Afrikaner von heute verdanken ihre Freiheit […] den abolitionistischen Interventionen von Briten und Franzosen.‘ Hab ich das nicht neulich bei Egon Flaig gelesen, auf Seite 98 seines famosen Buches Was nottut? Ja, ich glaube, das habe ich …“
Dann bricht er diesen interessanten Gedankengang leider schon ab, weil er uns sieht und seine Freundin Lockie ausgiebig tätscheln und beim Schnüffeln stören muss.

Ekki Schwing tauscht derweil seine sturmzerfetzte Syltflagge gegen einen 38-Years-of-The-Smiths-Jubiläumswimpel aus und stellt dabei folgende etwas schwer lesbare Überlegung an:

„Man suggeriert uns, dass Kontroversen, widersprüchliche Aussagen, zweifelhafte Statements in einer Zeit von Fakenews und Framing durch sogenannte Faktenchecks geprüft und geklärt werden müssten. Und könnten.
Wer es wissen will, kann wissen, dass die Wissenschaft seit Jahrtausenden Faktencheckerei betreibt, das ist ja ihr täglicher Job, und sie wird höchstwahrscheinlich nie fertig werden damit. Und die drängende Frage stellt sich dann doch, wie irgendein pizzafutternder Jungjournalist durch eine Stunde Internetsurfen zu irgendwelchen abschließenden Urteilen kommen sollte in Fragen, über die tausend Experten ihres Fachs sich nicht einigen können. Nun, ganz einfach: Er wählt die Fakten aus, die ihm und seiner medialen Kundschaft gerade so passen.

Der neue Typ des aktivistischen Medienschaffenden, dieses pseudoinvestigative, achtsam-faschistoide Mischwesen aus Tatsachenwähler und Tugendwächter, das mittlerweile massenhaft in den Geheimlabors von Grünen, Zeit online und ZDF biosynthetisch in der Petrischale großgezogen wird, ist aber leider nicht ganz so belächelnswert, wie man es gern hätte, es entwickelt sich langsam zu einem monströsen Problem heran.

Neugierig wie ich bin, lese ich, wo immer ich hinkomme, die lokalen Stadtmagazine und Anzeigenblätter, und daher weiß ich, dass die oft – nicht nur aus Faulheit, sondern auch zur journalistischen Selbstaufwertung – regelmäßig und völlig kritiklos die ‚preisgekrönten‘ Recherchen von Correctiv und Konsorten übernehmen. Da liegt die wahre Macht über die Volksmeinung: bei den kostenlosen Wochenblättern. Der FAZ und der SZ, dem Spiegel und der Bild wird ja immerhin hier und da widersprochen. Aber niemand widerspricht den tausenden von Lokalspiegeln und Kommunalkompassen, wenn sie etwa die staatlich geförderte und gemeinnützige Faktenwahrheit verbreiten, dass die Corona-Pest in der Stadt sei.

Faktizität ist für solche Wahrheitskonstrukteure aber eigentlich eh nicht der Maßstab, der über die Gültigkeit und Verlautbarkeit oder Diskussionswürdigkeit einer Äußerung zu entscheiden hat. Faktenchecker verifizieren oder falsifizieren keine Tatsachen, sie affirmieren die herrschende Meinung. Zu Beginn der ‚Coronakrise‘ etwa waren Fakten in der Tat schwer zu haben. Wenn Wissenschaftler A sagt, das Virus sei außergewöhnlich gefährlich, es drohen zig Millionen Tote, und Wissenschaftler B sagt, es sei nicht gefährlicher als eine herkömmliche Grippe, dann kann kein Faktenchecker entscheiden, was hier Wahrheit ist, was Lüge, was Irrtum und was bewusste Irreführung. Auch wenn 99% der Wissenschaftler, Politiker, Experten, Journalisten sich A anschließen, hat das mit Faktizität exakt null zu tun, sondern nur mit Meinungen und Ansichten. Die 99% vertreten die herrschende Meinung, und in unseren Zeiten bedeutet herrschende Meinung nicht mehr nur vorherrschende Meinung, sondern in zunehmendem Maße Meinung, die mit echter Macht ausgestattet ist, mit Unterdrückungs-, Delegitimierungs-, Pathologisierungs-, Ridikülisierungs- und Existenzvernichtungs-Macht.

Faktenchecker bilden die Munitionskolonne der vierten Gewalt. Die medialen Rechthaber und Weltdeuter geben sich längst nicht mehr mit Deuten, Interpretieren und Einordnen, mit Diffamierungs-Kampagnen, Regierungslob und moralistischer Propaganda zufrieden. Sie begreifen sich als legitime Staatsgewalt. Sie wollen nicht länger nur labern, sondern auch handeln und Tatsachen schaffen. Und das tun sie. Im Verein mit den Gutwilligen der Gesellschaft, den Kulturschaffenden, den Kirchenfritzen, den Sozialverbänden, den Stiftungen, den Big-Tech-Konzernen, all den Sozialingenieuren in Verwaltung, Werbung, Wirtschaft und Wissenschaft.

Der aktivistische Relevanzadel erlässt Regeln, Regeln des Zusammenlebens, Regeln des Sprechens, Denkens und Fühlens. Normen des Seins, Standards des Sollens. Und die Aktivisten haben die Macht, ihre Regeln durchzusetzen, denn sie sitzen in den Führungspositionen der maßgeblichen Institutionen. Sie wollen ihre konstruierte Realität implementieren und die echte, empirische Realität abschaffen. Sie lachen natürlich über solche Sätze, ‚echte Realität‘ … was soll das sein? Es sei alles Ansichts- und Aushandlungssache, alles Konstruktion. – Nein, ist es nicht.

Der Realismusstreit dreht sich um eine uralte philosophische Frage, und die ist noch immer nicht entschieden. Ich glaube mit dem großen Fröhlichen Wissenschaftler von Sils, sie ist nicht zuletzt eine Redlichkeits- und Rechtschaffenheitsfrage, und sie ist im Grunde recht einfach zu entscheiden: Man kann die Welt sehen, wie sie ist, oder man kann sich was vormachen.

Sich und anderen etwas vorzumachen ist okay, wenn sich das Vormachen als solches zu erkennen gibt: als Kunst, Theater, Aufführung, Show, Illusionismus, Fiktion. Wer aber mit den Mittel der Kunst und der Konstruktion Politik macht, Wissenschaft und Nachrichten macht, der lügt, der betrügt, der treibt Menschen in den Wahnsinn.“

Die Denkblase über Ekkis Kopf geht noch weiter, aber sie verdüstert sich mit jeder Zeile derart, dass sie zu einer Gewitterwolke auszuarten droht, und danach ist mir momentan irgendwie nicht zumute. Und Lockie auch nicht. Sie geruht, sich ein paar Meter zu bewegen. Irgendwo scheint es interessanter zu riechen, und ich ahne auch wo … nämlich in der Hasengasse, wo seit Kurzem der sympathische Koch Andrew Onuegbu ein Gartenstück gepachtet hat. Das ist der aus meinem Rassismustext, und auch diesmal ist wieder nicht ganz klar, ob er das nun wirklich ist, oder ob es sein tschechisch-nigerianisches Lookalike Janosz ist, das während des Würstchenumdrehens am Grill so dies und das denkt:

„Man sagt uns, dass es keine Rassen gebe.
Wer Augen im Kopf hat, kann sehen, dass dies eine eklatante Unwahrheit ist. Wer Ahnung von Genetik hat und ein Labor besitzt, kann Individuen ziemlich treffsicher einem Geotypus zuordnen. Und wer etwas Verstand in der Birne hat, kann sich fragen, wie diese BLM-Bewegung dauernd von ‚Schwarzen Leben‘ reden kann und von ‚White Supremacy‘, wenn es keine schwarzen oder weißen Menschen gibt. – By the way: Es gibt tatsächlich keine ‚schwarzen‘ und ‚weißen‘ Menschen, aber es gibt eben das, was als Typus jeweils damit gemeint ist: negroide und europide Varietäten der Spezies Homo Sapiens. Der Typ da drüben zum Beispiel – ach, das ist ja der Marcus mit seinen Hunden … na, die wollen bestimmt wieder Würstchen schnorren … – der jedenfalls ist doch nicht weiß. Ich würde sagen, je nach Jahreszeit und Lichteinfall ist der irgendwas zwischen Gouda, Buche, Bronze und Kochschinken. Wir Hobbyanthropologen sagen jedenfalls nicht ‚weiß‘, auch nicht ‚caucasian‘, sondern ‚europid‘.

Ich mein, es kann wohl sein, dass wir uns infolge der stetig sich steigernden Globalmobilität und der daraus resultierenden Vermengung allmählich auf dem Weg zu einer einzigen Mischrasse befinden, was bedeuten würde, dass es irgendwann tatsächlich keinen Sinn mehr hätte, von ‚Rasse‘ zu reden. Ich fände das aber sehr bedauerlich und langweilig, denn ich mag die Vielfalt, und ich begreife nicht, wie ausgerechnet all die Diversity-Apostel in der großen egalitären Einheit ein erstrebenswertes Ziel erblicken können.“

Schade, auch diese Blase zerplatzt, denn Lockie und der ebenfalls herbeigeeilte Theodor bellen über den Zaun und fordern von ihrem neuen Spezialfreund das ihnen zustehende Leckerchen ein. Sie kriegen ihre Würste, und ich lasse mir das zuvor flüchtig Gelesene nochmal zum Mitschreiben diktieren.
„Da müssen wir uns die Tage dann nochmal genauer drüber unterhalten … Ciao, du alter Rassist“, rufe ich mit Zwinkersmiley in der Stimme, während ich die noch immer schmatzenden Schnorrer wegziehe.

Weit kommen wir nicht, da muss das rauhaarige Stöbertier schon wieder die Randsteine analysieren. Ein seltsamer Typ, den ich nicht namentlich kenne, – so etwa mein Alter, so meine Statur und Frisur – liegt, Selbstgedrehte paffend, in seiner Hängematte und mischt gemächlich Denkblasen mit Rauchringen:

„Man sagt uns, dass der Islam zu Deutschland gehöre, dass der Islam eine Religion wie jede andere sei, dass der islamistische Terror nichts mit dem Islam zu tun habe.
Wer es wissen will, kann wissen, dass der Islam das genaue Gegenteil all dessen ist, was Deutschland und Europa ausmacht, und dass islamistischer Terror nicht mit dem Sprengstoffgürtel beginnt, sondern mit Kopftuch und Burka.

Man sagt uns (wenn es gerade opportun scheint, zum Beispiel wenn man die Zustimmung der Bevölkerung zu einer selbstmörderischen Migrationspolitik erheischen will), dass unser Zusammenleben auf christlichen Werten beruhe.
Wer es wissen will, kann wissen, dass es nicht christliche, sondern aufklärerische Werte sind, die im mentalen Zentrum unseres republikanischen Gemeinwesens stehen. Wer mit den Werten des Christentums, wer mit der Bergpredigt, mit Nächstenliebe und Feindesliebe Regierungsentscheidungen begründen will, scheidet aus dem Kreis der politisch Zurechnungsfähigen aus.
Wer orientalischen Antisemiten seine christliche Feindesliebe bezeugen will, der kann meinetwegen gern in die entsprechenden Weltgegenden fahren und dort den Fundamentalisten die Füße küssen. Wer aber gemäß solchen moralischen Vorlieben einen Staat zu führen unternimmt, steht zu Recht ganz weit oben in der historischen Hitparade des politischen Irrsinns.

Wer noch was wissen will, kann übrigens wissen, dass es abgesehen von Sekten gar kein Christentum in Deutschland mehr gibt. Die offiziellen Kirchen haben mit der Sache des Mannes aus Nazareth offenkundig nicht das Geringste zu tun. Es sind sentimental-sozialpädagogische NGOs, geführt von täppischen Automaten in Talaren. – Kaum etwas Schöneres und Erhabeneres gibt es in der Geschichte der Menschheit als die Lehre und das Leben des messianischen Seelenerneuerers Jeshua ben Josef. Und wenig Verachtungswürdigeres gibt es auf der Welt als diese pharisäischen Götzenmanager, diese Fake-Dignitäten, diese dilettantischen Fälscher der Heiligkeit, die in deutschen Domen das Geschäft des Zeitgeistes betreiben.“

Starker Tobak. Wer weiß, was dieser Hängematten-Nietzsche sich da für Gartenkräuter in seinen Glimmstängel gedreht hat …

Lockie jedenfalls hält ihre olfaktorischen Sensoren zur Abwechslung mal interessiert in die Höhe, aber nur kurz, dann schwenkt sie um zum gegenüberliegenden Gartentor, hinter dem sich ein keramisches Reich der Zwerge, Elfen und Fabeltiere verbirgt, ein überbevölkertes Middle-Earth oder Diddle-Earth, in dem die Lehrerin Ulla Borbecker nur durch ihre höchst unidyllische Gedankentätigkeit auffällt:

„Man sagt uns, dass Kinder zu unabhängigen Individuen herangebildet werden sollen, dass die Gesellschaft aus freien Einzelnen bestehe, deren Individualität unvergleichlich kostbar und unersetzlich sei.
Wer es wissen will, kann wissen, dass das Leben des modernen Individuums nur die millionenfache Kopie einer banalen Abfolge von Moden ist, ein massenhaftes Ausführen von Lebensprogrammen, in denen Selbstermächtigung und Devianz, in denen wirklich freie und abweichende Entscheidungen nicht vorgesehen sind. Der echte Individualist bleibt wie zu allen Zeiten ein lebenslanger Kämpfer. Gegen die Masse, gegen die eigene Dressur und Bequemlichkeit. Vor allem gegen die Verlockungen des Konsumismus. Denn der ist die eigentliche Geistesverkrüppelung der Epoche, dieser tödlich-voluptuöse Einverleibungszwang, auf den hin alles moderne Leben zugerichtet werden muss … die Welt wird warenförmig, alle Lebensbereiche ähneln Märkten, es lebe die Aufmerksamkeitsökonomie, es blitzt und gellt, es blinkt und jubelt aus jedem Speaker, jedem Display, Kunst wird Produkt, Religion wird Dienstleistung, Priester, Politiker, Parteien, Poeten und Propheten machen den ‚Menschen‘, den Usern und Kunden und Konsumenten ‚Angebote‘. Alles Reden, alles Auftreten, alle Ansprache wird Marketing. Es wird den Menschen nach und nach unmöglich, außerhalb dieser Kategorien zu denken, zu fühlen, zu wollen. Dass der Staat ein Servicecenter ist, dass der Arzt ein Dienstleister ist, dass der Lehrer ein Provider von Chancen und Kompetenzen ist, dass der Künstler Produzent von Unterhaltung, Dekoration, Sinn und Schönheit ist …“

Mein etwas zu lautes Gähnen holt sie zurück in ihren Fantasygarten, ihr Gedankengewölk trübt sich ein und verblasst, ihr Blick geht mild über all die fröhlichen Terracottaschnecken und die schelmischen Pilze und die drei sich balgenden Häschen, die es letztens bei Netto im Angebot gab. Ihr Telefon vibriert. Sie lässt es rappeln, überlegt lange, dann wirft sie es lächelnd in die Regentonne und lässt noch eine letzte goldene Sundowner-Erkenntnis über ihrer Karl-Lagerfeld-Frisur aufpoppen: „Das Smartphone ist ein künstliches Organ aus der Prothesenwerkstatt der Hölle.“

Ja, sie denken sich viel zurecht, meine abgehängten Mitbürger auf ihren Schrebergartenbänken unter der Abendsonne, während Lockies Hundenase die Hecken und Staketen inspiziert. Und ich im Stehen einpenne. Ihre Denkblasen füllen meine Notizbücher. Vielleicht ist es auch umgekehrt.

 

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© Marcus J. Ludwig 2021.
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